Kinder in geschlossenen Einrichtungen
- Gefühls- und geschlechtslose Wesen -

In den sechziger Jahren verbrachte ich über sechs Jahre in einem Kinderheim, einer Geschlossenen Einrichtung mit staatlichem Erziehungsauftrag unter katholischer Trägerschaft. Drei Erzieher und zwei Praktikanten kümmerten sich im Wechsel um eine Masse von Kindern. Es mussten ca. 30 Kinder gewesen sein.

Aufgewachsen bin ich mit drei Geschwistern, die das gleiche Schicksal erlitten: sie wurden von ihrer geliebten Mutter gerissen und erlebten - zum größten Teil getrennt - wechselnde Heime, wobei die ersten Jahre des Heimaufenthalts bei uns allen in Form menschlicher Züchtigung und menschlichen Terrors erlebt wurden. Kaum vorstellbar, dass so etwas in unserem Lande, der BRD, passiert. Doch wer konnte sich die Judenvernichtung im 3. Reich vorstellen?

Obwohl heute die Öffentlichkeit scheinbar einiges mehr erfährt über das, was in Geschlossenen Einrichtungen passiert, sind immer noch zu viele Kinder in deutschen Heimen. Seit längerem möchten mehr Eltern Kinder aus den Heimen holen, als Kinder in Heimen vorhanden sind. Weshalb müssen Kinder in Heime und wie erleben sie die Heimeinweisung und den Heimaufenthalt?

ZWANGSGEWALT

Die Heimeinweisung bedeutet für Kleinkinder, deren Eltern noch leben, eine Zwangsmaßnahme. Die Kinder gehen nicht freiwillig ins Heim, sondern möchten aufgrund ihrer natürlichen Nachahmungsbestrebungen bei ihren Eltern bleiben, selbst wenn die Eltern ihre Kinder misshandeln. Von Misshandlung konnte in meinem Falle nicht gesprochen werden. Dafür hatte meine allein erziehende Mutter wechselnde Männerbekanntschaften und konnte für kein "geordnetes" Familienleben sorgen. Als dann zwei weitere Kinder geboren wurden, nahm ihr das Jugendamt alle Kinder weg; vorab bekam sie das Sorgerecht entzogen.

OHNMACHT

Zum ersten Mal in meinem noch jungen Menschenleben verspürte ich bei der Heimeinweisung das Gefühl der Ohnmacht. Mein Wille zählte nicht mehr. Mit mir wurde gemacht, wie andere es wollten. Die anderen, das waren Sozialarbeiter, Erzieher und Nonnen, jene Mitmenschen von uns, die scheinbar nur Gutes vollbringen und sich ebenso scheinbar über herzzerreißendes Kindergeschrei und Gestrampel hinwegsetzen können. Hatten sie keine Gefühle mehr? - Doch was nutzten Gefühle. Sie hatten ihre Pflicht zu erfüllen und da wurde nicht mehr gefragt, wie dies zu geschehen hat. Hauptsache es geschah.

HEIMTERROR

Der Heimalltag orientierte sich an einer alten Mönchsregel: "Bete und arbeite". Sobald die Kinder in die Schule kamen, mussten sie bei allen anfallenden Haushaltsarbeiten im Kinderheim mitarbeiten. Durchgesetzt wurde dies von den Erziehern nach dem Prinzip "Befehl und Gehorsam" und dem Motto "Und bist Du nicht willig, so brauche ich Gewalt". Wenn ein Heimkind nicht gehorchte, wurde es geprügelt und zwar so lange, bis es gehorchte. Die Erzieher bedienten sich des Faustrechts und ihnen schien jedes Mittel recht zu sein. Die Heimkinder konnten sich vor lauter Angst niemanden anvertrauen. Es hatte zudem keinen Zweck. Wer es einmal von den Heimkindern wagte, sich seinen Eltern anzuvertrauen und die Eltern den Heimerziehern die Missstände darlegten, erlebte man als Heimkind die Hölle auf Erden. Ein scheinbar nie endendes Trommelfeuer an Prügel wurde dem betreffenden Heimkind zuteil, sodass es anschließend wirklich den Mund hielt.

KINDER NUR NOCH OBJEKTE

Der terroristische Heimalltag ließ die Kinder zu Objekten werden. Gefühlsaustausch seitens der Erzieher erfolgte nicht. Während des Heimaufenthalts war man als Heimkind ein gefühls- und geschlechtsloses Wesen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sich das Heimkind als Marionette (willenloser Mensch als Werkzeug anderer) und menschliches Wrack fühlen musste. Wenn ein Heimkind krank wurde, nahmen die Erzieher die ersten Krankheitsanzeichen wie Müdigkeit und Lustlosigkeit gar nicht wahr. Solche Anzeichen wurden stets als Faulheit ausgelegt und mit einer Tracht Prügel begleitet.

ALLES REGLEMENTIERT

Der Heimalltag war strikt vorbestimmt, selbst die Spielzeiten und Spielarten. Über jedes Heimkind wurden Berichte geschrieben, in denen von den Erziehern festgehalten wurde, wie sich die Heimkinder verhalten. Jedes Heimkind galt generell als verhaltensgestört und musste sozialisiert werden. Wer sich an den Heimalltag angepasst hatte, war reif für die Außenwelt. Dies bedeutete zunächst, dass Kontakte mit den noch existierenden Elternteilen aufgenommen werden konnten. Ermöglicht wurde dies am Sonntag. Nach dem obligatorischen Morgengottesdienst durften die Kinder ihre Eltern besuchen. Am späten Nachmittag mussten sie wieder zurück sein. Als Heimkind durfte man die öffentliche Schule besuchen, gelegentlich kleinere Einkäufe/Besorgungen für die Heimleitung in der näheren Umgebung erledigen und in den Sommerferien zu einem Ferienlager fahren.

GEGENÜBER JEDEM WEISUNGSGEBUNDEN

Das Heimkind hatte nicht nur den Erziehern zu gehorchen, sondern jedem beliebigen Erwachsenen. Sobald an die Erzieher etwas Negatives herangetragen wurde - egal woher - war man als Heimkind einer Tracht Prügel sicher.

SELBSTVERLEUGNUNG

Mit das schlimmste, was jedem Menschen passieren kann: die Selbstverleugnung. Das Heimkind hatte bei der Heimeinweisung alles zu vergessen, was es bisher erlebt und an Wertvorstellungen verinnerlicht hatte. Die Herkunftsfamilie war ohne Bedeutung. Nur die Heimnormen zählten und nur die Erfüllung der Anweisungen der Erzieher war maßgebend. Da jedoch jeder Mensch an dem festhalten will, was er bisher erreicht und an Werten verinnerlicht hat, gerät ein Heimkind in einen Konflikt, den es nicht lösen kann. Die provokative Forderung der Erzieher, die eigenen Eltern zu vergessen und die massive Zwangsausübung durch Gewaltanwendung lassen dem Heimkind keinerlei Chance; über die eigenen Eltern zu reden. Leider wird das Heimkind auch gar nicht danach gefragt, was ihm bei seinen Eltern gefallen hat. Bei den staatlichen Instanzen zählten nur die scheinbar objektiv feststellbaren schweren Erziehungsmängel der Eltern. Mutterliebe schien nicht möglich zu sein bei einer Frau, die wechselnde Männerbekanntschaften unterhielt. Für die Kinder gibt es keinen plausibel erklärbaren Grund, von ihrer geliebten Mutter gerissen zu werden. Absurd ist dann die Frage seitens der Vormundschaft, ob man zu seiner eigenen Mutter zurückwolle. Die Verneinung dieser Frage galt als Indiz, dass es dem Heimkind gelungen war, sich von dem "schlechten Elternvorbild" zu lösen. Für ein Kind gibt es jedoch keine schlechten Eltern. Die Eltern sind stets das Hauptvorbild, an dem sich das Kind orientiert, unabhängig davon, wie das Verhalten der Eltern durch Dritte beurteilt wird. Die Beurteilung der Eltern durch Dritte interessiert ein Kind nicht. Jeder kann selbst überprüfen, wie Menschen reagieren, wenn in ihrer Gegenwart über die eigenen Eltern etwas "Schlechtes" gesagt wird. Die Selbstverleugnung treibt im Extremfall die Menschen zum Selbstmord oder Märtyrer. Meine Geschwister und ich sind froh, dass wir unsere Mutter stets in guter Erinnerung behalten haben und dies in unseren Herzen mitgetragen haben. Unsere Mutter gab uns die Kraft durchzuhalten, sodass wir uns alle gut entwickeln konnten.

SICH SELBST VERANTWORTLICH

Jedes Heimkind war sich selbst verantwortlich. Offiziell hatten die Erzieher die direkte Verantwortung über die zugeordneten Kinder. Doch wenn es etwas Gutes über Heimkinder zu berichten gab, fühlte sich plötzlich jeder verantwortlich, allen voran die Ordensträger. Gab es etwas Negatives zu sagen, hatten dies die Erzieher zu verantworten. Die Erzieher hingegen hatten ein recht gutes Alibi, sich aus der Verantwortung zu ziehen: einerseits kamen die Kinder ja verhaltensgestört ins Kinderheim, andererseits war man als Erzieher in Ausübung einer Berufsrolle nur eine begrenzte Zeit für die zugeordneten Kinder zuständig. Insofern konnten die leiblichen Eltern schon irreparable Schäden an ihren Kindern angerichtet haben, die halt immer wieder zu tage treten. Aber auch die Erzieherkollegen konnten in der übrigen Zeit, in der man nicht berufstätig im Kinderheim war, etliches falsch machen. Dann gibt es noch die kluge Erkenntnis, dass jedes Menschen Schicksal vom "lieben Gott" vorbestimmt ist und es "muss ja kommen, wie es kommen muss". Die Heimkinder hatten das Nachsehen. Entweder sie kapierten es irgendwann, was man mit ihnen vorhatte oder sie gingen zugrunde, denn "die letzten beißen die Hunde".

DIE ROLLE DER ERZIEHER

Die Hauptfunktion der Erzieher bestand im Erziehen von fremden Kindern. Dazu wurden sie beruflich ausgebildet. Die Ausbildung reichte jedoch nicht aus, um eine Masse von Kindern erziehen zu können. Erziehung lässt sich aber auch in einer Ausbildung nicht erlernen, denn Fachwissen allein genügt nicht, um Kinder zu erziehen. Von der Tatsache, dass es einen Beruf "Erzieher" gibt, erfuhr ich erst, als Ich schon lange aus dem Kinderheim heraus war und ich konnte mir kaum vorstellen, was unter der Ausbildung "Erziehung" zu verstehen ist. Lernte man da etwa, wie man Kinder "richtig" prügelt oder wie man Heimkindberichte zu formulieren hatte, ohne dass das Jugendamt Verdacht schöpfen musste? Lernte man dort, wie man Kinder zu züchtigen hatte, bis sie es nicht mehr wagten, über die Situation im Heim gegenüber Außenstehenden zu reden? Lernte man dort, wie man junge Menschen stets auf ihre elende Herkunft aufmerksam machen musste, um sie zu ehrerbietenden und dankbaren Geschöpfen heranzuzüchten? Dies lernte man sicherlich nicht, doch es gibt ja den gewissen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Geschlossene Einrichtungen begünstigen die Züchtigung von Kindern, denn die Öffentlichkeit scheint sich kaum dafür zu interessieren, was hinter hohen Mauern passiert. Sie erhält auch kaum Einblick und wenn, dann nur nach Voranmeldung. Zu groß ist das Vertrauen in die "göttliche Überwachung". Doch auch Nonnen und Patres sind nur Menschen, mit allen Fehlern und Schwächen, die Menschen haben können. Niemand ist perfekt. Dies wird man auch nicht durch eine Berufsausbildung, auch wenn es ein typisches Kennzeichen jeden erlernten Berufes ist, keine Fehler mehr in dem gelernten Beruf zu machen. Die Erzieher wirkten wie Perfektionisten, denn sie selbst machten grundsätzlich keine Fehler. Fehler machten immer die Heimkinder. Diese Fehler mussten ihnen ausgetrieben werden. Prügel galt dabei als Allheilmittel und das nicht nur bis Ende der sechziger Jahre. Die Masse der Kinder stellte den Heimerzieher zwangsläufig in die Situation einer permanenten Überforderung, in der es ihm scheinbar nur noch möglich war, sich auf die Stufe von Neoprimitiven zu begeben, die verzweifelt auf ihre urzeitliche Muskelkraft zurückgriffen, um noch eine Art persönlicher Dominanz zu demonstrieren. Der Heimerzieher war kein Erzieher mehr, sondern bestenfalls ein Heimkindhüter oder Heimkindwärter, vergleichbar mit dem Schafhirten, der seine Schäfchen mit Hilfe von bissigen Hunden zusammenhält. Wer aus der Reihe tanzt, wird auf die "Schlachtbank" geführt.

DAS JUGENDAMT

Eine Sozialarbeiterin des Jugendamtes führte die Heimeinweisung durch, indem sie das Kind vom Elternhaus wegnahm und in ein Kinderheim brachte. Außerdem sorgte sie für die Heimentlassung. Hierzu vertraute sie sich scheinbar blind auf die Heimkindberichte der Erzieher des Kinderheims. Sonst kümmerte sie sich nicht um ihre Zöglinge und wenn, dann nur von ihrem Büroschreibtisch aus. Die Sozialarbeiterin des Jugendamtes war primär als Sachbearbeiterin tätig. Ihre zu bearbeitenden Sachen waren die Heimkinder bzw. Heimkindangelegenheiten. Die Sozialarbeiterin blieb stets auf Distanz gegenüber dem Heimkind. Wir wurden von ihr nicht psychologisch und pädagogisch betreut und erhielten auch von keinem Fachpsychologen. Eine Erklärung für unsere Heimeinweisung. Von den Heimkindhütern wurde die Sozialarbeiterin gegenüber den Heimkindern als Autoritätsperson bezeichnet, die jederzeit die Möglichkeit hat, die Heimkinder in noch schlimmere Heime zu stecken. Aus diesem Grunde konnten sich die Heimkinder auch nicht der Sozialarbeiterin anvertrauen.

DIE NONNE

Sie entsprach bei weitem nicht den christlichen Idealen und zeigte die gleichen Verhaltensweisen wie die übrigen Erzieher. In ihrer Eigenschaft als Heimleiterin war sie sogar Vorbild für die Erzieher. Ihre Prügel glichen einem Trommelfeuer. Bei der Nonne zeigte sich, wie jemand ein im Bewusstsein der Bevölkerung vorhandenes positives Bild in sein negatives Extrem verwandelte und keiner schien es zu merken. Wie sollte es auch jemand merken? In Gegenwart anderer Erwachsener zeigte die Nonne ihr liebstes Gesicht, stets freundlich lächelnd und den Eindruck erweckend, keiner Seele etwas zu Leide zu tun.

GOTT UND TEUFEL

Der "liebe" Gott wurde im Kinderheim zur Förderung des Anpassungsverhaltens eingesetzt. Zunächst glaubte ich daran, dass es einen Gott gibt, der allmächtig ist und alles sieht was man macht. Das jedoch mein Schicksal "gottgewollt" sein sollte, ging mir nicht in meinen Kopf. Da ich mein Elend als so gravierend erlebte, forderte ich Gott heraus. Und siehe da, er ließ mich gewähren. Da der liebe Gott real nicht existent war, musste er an Glaubwürdigkeit verlieren. Gott diente nicht nur der Förderung des Anpassungsverhaltens, sondern sollte auch jede Art von Eigenaktivität hemmen, die nicht göttlichem Gebote entsprach. Obwohl es einen allmächtigen Gott geben sollte, wurde die Existenz eines Teufels nicht geleugnet. Gegen den Teufel, der Verkörperung allen Schlechten und Bösen musste man ankämpfen. Welch verrückte Erwachsenenwelt! Freilich ließ, man sich zur Bändigung von Kindern recht viel einfallen.

HIN- UND HERGESCHOBEN

Auch diese Taktik galt der Bändigung der Heimkinder. Die Erzieher versprachen, dass im Falle guter Führung die Kinder das Heim verlassen können. Bei schlechter Führung drohte ein noch schlimmeres Heim. Beim Heimaustritt wurde das Heimkind mit der scheinheiligen Frage konfrontiert, ob es zu seinen Eltern zurückwolle. Im Glücksfalle kam das Heimkind in eine gute Pflegefamilie. Ansonsten pendelte das Heimkind zwischen Pflegefamilie, Heim bzw. Internat und eventuell den eigenen Eltern. Das Heimkind weiß nicht mehr, was das alles soll. Die einzige Hoffnung lag im Durchhalten in der Orientierung an dem Motto: "Friss oder stirb". Glücklicherweise prügelten die Pflegeeltern von meinen Geschwistern und mir nicht, sodass uns das "Fressen" nicht so schwer fiel.

ETWAS VERÄNDERT?

Die Frage, ob sich heute etwas verändert hat an und in den Geschlossenen Einrichtungen klingt hoffnungsvoll. Doch ich würde mir etwas vormachen, wenn ich nur diese Hoffnung hätte. Neuere Veröffentlichungen zeigen auf, dass sich so gut wie nichts verändert hat. Meine einschlägigen Erfahrungen bestätigen dies. Erst heute, nachdem ich bereits über zwanzig Jahre das Kinderheim verlassen habe, gelang es mir, mich mit diesen Erlebnissen an die Öffentlichkeit zu wenden. Meinen Geschwistern ist dies noch nicht möglich. Und die Mehrheit schweigt weiterhin, denn die Torturen wirken. Deshalb fordere ich:

HOLT DIE KINDER AUS DEN HEIMEN!

Nicht Berufstätige sind gefragt, sondern Menschen als Vorbilder und das "rundum die Uhr". Wer glaubt, vielen etwas bieten zu wollen, bietet letztlich niemandem besonders viel. Es ist wichtig, sich auf wesentliches zu konzentrieren. Für die Kindererziehung bedeutet dies, sich nur so viele Kinder zu holen, wie man mit seiner gesamten Privatzeit erziehen kann.