Nicht nur ein fataler Irrtum, sondern viele Irrtümer: „Das Ende der Geduld” (Januar 2011)
Kritik zum gleichnamigen Buch von Kirsten Heisig, 2. Aufl. 2010, Herder Verlag
Der fatale Irrtum trieb Frau Heisig offensichtlich in den Suizid, sie war an ihrem frühen selbst gewählten Lebensende auch am Ende ihrer ureigenen persönlichen
Geduld. Ich beziehe mich nun im Wesentlichen auf ihren Buchabschnitt: „Etwas Persönliches zu guter Letzt” Seite 203, Sie führt aus:
„..., denn die meiner Generation zur Verfügung stehenden Möglichkeiten folgen keinem Naturgesetz.”
Meine Antwort: Das Naturgesetz ist das Recht der Natur auf Leben und Tod.
Die Folgen aus diesem Naturgesetz spürte die Autorin kraft ihres Berufes als Richterin tagtäglich. Ein weiteres Naturgesetz ist die Zeit und ihr Zeitgeist. Es geschehen Ereignisse, die nicht beeinflussbar sind und als Schicksal bezeichnet werden. Mein Schicksal war das eines Heimkindes der 1960iger Jahre. Die Autorin macht sich stark für Geschlossene Einrichtungen bei Jugendlichen, distanziert sich zwar von den Verhältnissen der 1950iger und 1960iger Jahre, doch das interessiert die Presse nicht. Doch wie sie selbst zugibt (ebenda):
„...fühle ich mich darin bestärkt, unserem Land etwas zurückzugeben, das jenseits der Ausübung meiner beruflichen Tätigkeit liegt – auch wenn ich dabei anecke.”
Meine Antwort: Anecken darf kein Dauerzustand werden und die eigenen Belastungsgrenzen, sowohl physisch als auch psychisch, sind zu berücksichtigen. Als ehemaliges Heimkind habe ich bereits in meiner Kindheit die psychischen Belastungsgrenzen kennen gelernt und im Erwachsenenleben tunlichst vermieden, meine Belastungsgrenzen zu überschreiten. Ich schaffte es dennoch zum Akademiker und einer erfolgreichen Berufslaufbahn. Dabei geht es ohne Anecken nicht, doch es bedarf der Einsicht, sich auch zurücknehmen zu können und zu müssen. Doch auch hier demonstrierte die Autorin scheinbar unbegrenzte Kraft (ebenda):
„Ich möchte, dass die künftigen Generationen dieselben Chancen erhalten, die sich mir boten.”
Meine Antwort: Dieselben Chancen kehren nicht wieder, denn der Zeitgeist wirkt. Selbst wenn jeder dieselben Chancen hätte, kann nicht jeder dasselbe daraus machen. Als ehemaliges Heimkind hatte ich mir nichts Sehnlicheres gewünscht wie eine Familie. Mein Schicksal bestimmte etwas anderes. Die Autorin zeigt hier bereits ganz klar, in welcher Traumwelt sie versuchte sich zu orientieren. Das wird noch deutlicher in folgender Aussage (ebenda):
„Die Gesellschaft befindet sich aus meiner Sicht an einem Scheideweg. Sie könnte sich spalten: in „reich” und „arm”, in „links” und „rechts”, in „muslimisch” und „nichtmuslimisch”.”
Meine Antwort: Eine Gesellschaft lebt in der Bi-Polarität, in der Abgrenzung von Ich und Du, nach dem Prinzip Teile und Herrsche. Für mich als ehemaliges Heimkind besteht
eine Gesellschaft primär aus Egoisten, weshalb es ja auch der vielen Gesetze bedarf. Ohne Gesetze (und Regeln) würde eine Gemeinschaft nicht existieren.
Dabei gibt es immer Mitmenschen, die meinen, die Gesetze missachten zu können. Dazu gehören auch die engsten Mitstreiter/Mitarbeiter: Wenn sich die Bundesrepublik Deutschland
zur Schulpflicht bekennt, dann ist es primäre Aufgabe der Gesetzesvertreter, diese auch umzusetzen, d.h. die Gesetze sind einzuhalten. Daran scheitern jedoch auch Jugendamtsmitarbeiter.
Die Autorin als Richterin hätte bei jeder Schul-Distanz (der neuere Begriff für Schulschwänzen) auch die Jugendamtsleitung in die Pflicht nehmen müssen einschließlich
möglicher gerichtlicher Verurteilungen. Doch offensichtlich greift eine richterliche Verurteilung nur in gut-bürgerlichen Verhältnissen, wenn Eltern versuchen, ihre Kinder
selbst zu qualifizieren ohne Schulbesuch. Dann lassen sich ansonsten wohlerzogene Eltern per richterlichem Beschluss zu einer Zwangsmaßnahme verpflichten oder sie wandern ins benachbarte
Ausland, wo es ermöglicht ist, seine Kinder auch selbst zu qualifizieren.
Die Autorin hätte insofern als Richterin erstmal selbst versuchen müssen, auf ihrer Ebene, auf der Ebene der Gesetze, auf der Ebene ihrer Hierarchie, für Klarheit zu sorgen.
Dies räumt sie auch bereits in einem früheren Buchkapitel ein. Auf Seite 184/185 schreibt sie:
„Allerdings ist meine Herangehensweise auch ziemlich unkonventionell gewesen, was mir erst im Nachhinein bewusst geworden ist. Sicher hätte man bei längerem Nachdenken den Weg „von oben nach unten” gehen und die Hierarchien beachten können.”
Meine Antwort: „Denn der Fisch fängt vom Kopf an zu stinken!”
Zugegeben von mir eine etwas verletzend wirkende Kritik doch nicht weniger verletzend sind die Ausführungen der Autorin auf Seite 185:
„Sämtliche Verfahrensbeteiligten verfolgen inzwischen ein Ziel und haben sich zu diesem Zweck aus ihren jeweiligen Elfenbeintürmen herausbegeben.”
Meine Antwort: Hatte die Autorin der Weisheit letzter Schluss gepachtet, war ihr Ansatz die einzig wahre, die perfekte Lösung?
Als etwa 12jähriger verstand ich, dass mein Kinderheimdasein und die damit einhergehenden Züchtigungen auf intellektueller Ebene nicht bekannt sein konnten. Bei einem Kind setzte
die Mutter durch, dass das Kind auf das Gymnasium ging. Mir blieb dieser Schulbesuch damals verwehrt. Ich dachte, da muss es ja ganz schlaue Leute in der Gesellschaft geben, jedoch bekommen
die gar nichts mit von dem Leben im Kinderheim. Oder diese schlauen Leute wissen es doch und sind zu feige, sich für bessere Verhältnisse für die Kinder einzusetzen. Mir blieb die
Frage: Sind die schlauen Leute alles Feiglinge? Ich musste diese damals mit Ja beantworten. Vielleicht schöpfte ich daraus auch die Kraft, mich irgendwann selbst auf den Weg zu machen,
diese schlauen Leute kennen zu lernen. Und es gelang mir und ich habe gelernt, dass die schlauen Leute nicht alle Feiglinge sind. Doch es nährt sie in ihrem Erfolgsstreben die banale Volksweisheit:
Wes Brot ich ess', des Lied ich sing!
Das heißt, wer für mein Einkommen sorgt, dem schulde ich zu allererst meinen Dank. Und so bedankt sich die Autorin auch im letzten Kapitel ganz besonders bei ihren Mentoren (Seite 205),
bezeichnet sich als „unbequeme Richterin” und greift die Begriffe aus der Presse auf, nach der sie als „Richterin Gnadenlos” bezeichnet wurde. Vielleicht wurde nun der
Autorin bewusst, dass sich ein Vorgesetzter in aller Regel nur einen unbequemen Mitarbeiter leisten kann und nicht mehrere. Die Autorin führt über ihren Vorgesetzten aus (ebenda):
„Das sind Herausforderungen, um die er von seinen Amtskollegen sicher nicht beneidet wird. Umso größer sind mein Dank und meine Hochachtung.”
Trotz meiner Kritik möchte ich der Autorin auch meinen Dank aussprechen, denn sie versuchte nun kraft ihres Berufes eine Welt kennen zu lernen, die ihr aufgrund ihrer Kindheit verschlossen blieb. Sie musste viel kämpfen, was ihr kraft der Liebe ihres Elternhauses ermöglicht war, doch sie ging deutlich über ihre persönlichen Belastungsgrenzen hinaus und landete schließlich in ihrer persönlichen Sackgasse, aus der ihr die Umkehr nicht mehr gelang. Offensichtlich hatte sie sich auch nicht für manche Lebensweisheiten interessiert oder sie konnte diese nicht umsetzen. Ich zitiere daher nun die Worte des Literaturnobelpreisträgers Hermann Hesse (Lektüre für Minuten, 1. Aufl. 1999, Suhrkamp Verlag, Seite 110):
„Geduld ist das Schwerste und das Einzige, was zu lernen sich lohnt. Alle Natur, alles Wachstum, aller Friede, alles Gedeihen und Schöne in der Welt beruht auf Geduld, braucht Zeit, braucht Stille, braucht Vertrauen, braucht den Glauben an langfristige Vorgänge.....”
Das Büchlein schenkte mir ein ehemaliges Heimkind der 1960iger Jahre, dass drei Jahre seiner Kindheit in einem Kinderheim des Bundeslandes Hessen verbracht hatte. In Hessen war die Prügelstrafe per
Landesgesetz verboten, was seiner Aussage nach auch zutraf. Insofern hatte er keinen Groll an seine Heimerziehung und auch keine Probleme darüber zu reden. Doch mir und vielen anderen ehemaligen Heimkindern
ist es noch nicht möglich, denn es galt die Devise: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.
Die Bundestagskommission Runder Tisch Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre stellt in ihrem Abschlußbericht im Dezember 2010 fest, dass das Bundesland Hessen das einzige Bundesland war, in dem nach
dem 2. Weltkrieg per Landesgesetz die Prügelstrafe verboten war. So ist halt das Schicksal: für den einen mit Glück gesegnet, für den anderen mit Pech bestraft. Hermann Hesse führt aus (ebenda S. 102):
„Wem Schicksal von außen kommt, den erlegt es, wie der Pfeil das Wild erlegt. Wem Schicksal von innen und aus seinem Eigensten kommt, den stärkt es und macht ihn zum Gott”.
Heimkinder und Jugendliche Gewalttäter sind vom Pfeil getroffen: die körperliche Wunde heilt, doch die seelische Wunde bleibt. Die Autorin forderte ihr Schicksal heraus, indem sie sich für
die Schicksale von gewalttätigen Kindern interessierte bzw. kraft ihres Berufes interessieren musste. Doch es war ihre Entscheidung, ihre Verantwortung. Sie hat die Schicksale der gewalttätigen
Kinder sehr gut recherchiert und weiß daher auch, dass ganz früh und zeitnah die Sanktionen stattfinden müssen. Danach sollten Geschlossene Einrichtungen für Jugendliche nicht mehr notwendig
sein und wenn dann nur eine ultima ratio sein, das allerletzte Mittel in der Sanktionskette. Die Autorin entschied sich, ihr Schicksal nun in höhere Hände zu legen und beschritt den Weg zu Gott. Doch hier
kann ich Hermann Hesse nicht beipflichten, denn im heutigen Zeitgeist entspricht der Begriff Gott dem Vorbild und wer seine Schicksalsfrage mit dem Suizid verbindet, schadet seinen Idealen und es führt nicht zur
Lösung des Problems. Die wegbereitende Lösung ist die Geduld, was Hermann Hesse sehr treffend formuliert hat. In diesem Sinne appelliere ich an die politischen Verantwortlichen, am Thema dran zu bleiben.
Kirsten Heisig bleibt für mich eine von vielen Wegbereitern für mehr Verständnis in der gewaltbereiten Kinder- und Jugendlichenwelt zu schaffen.
Und ich setze ganz oben an und träume weiter davon, dass es irgendwann auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zur Definition von Kinderrechten kommt.
Wenz Flash,
denn das Schicksal nimmt seinen Lauf und fordert seinen Tribut!